Wirtschaftsethik

Wirtschaftsethik
1. Begriff: W. befasst sich mit der Frage, wie moralische Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft zur Geltung gebracht werden können (Implementationsproblematik). Neuere Ansätze erweitern den Begriff, indem sie entsprechend einem modernen Begriff von Ökonomik als allgemeiner Verhaltenstheorie W. als ökonomische Theorie der  Moral bzw. ökonomische Ethik verstehen. Damit sind auch die Begründung von Normen, z.B. von Menschenrechten, und die ökonomischen Folgen moralischen Verhaltens Gegenstand von W.
- 2. Problemstellung: Das Grundproblem der W. besteht darin, dass der für Marktwirtschaften typische  Wettbewerb für moralisch motivierte Vor- und Mehrleistungen Einzelner – Individuen, Unternehmen, Verbände, Staaten etc.
-, die zu Kostenerhöhungen oder Gewinneinbußen führen, keinen Raum lässt. Moral und Wettbewerb scheinen sich im Handlungsvollzug (oftmals) auszuschließen.
- 3. Der Lösungsansatz: a) Nicht wenige Autoren setzen in Diagnose und Therapie beim Wollen der Individuen an: Als Ursachen der Übel werden Egoismus und Profitgier angesehen, als Therapie werden Bewusstseinswandel und Umkehr empfohlen. Im Zentrum stehen hier die Präferenzen der Menschen.
- b) Solch ein Denken ist durch den grundlegenden Paradigmenwechsel der modernen Ökonomik überholt. Der Moralphilosoph  Smith entkoppelt Handlungsmotive und (aggregierte) Resultate: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“ Oder anders: Der Wohlstand aller hängt nicht vom Wohlwollen der einzelnen ab.
- c) Moral und Wettbewerb lassen sich dadurch simultan realisieren, dass sie auf verschiedenen Ebenen angesetzt werden. Man unterscheidet zwischen der Rahmenordnung des Handelns und den Handlungen innerhalb der Rahmenordnung oder zwischen Spielregeln und Spielzügen; dann kann der Wettbewerb in den Spielzügen Platz greifen, und die Moral kommt über die Spielregeln ( Regeln) zum Zuge. Moral erscheint nicht als unmittelbar handlungsleitende Motivation, sondern als Handlungsrestriktion. Die Rahmenordnung ist durch (Ordnungs-)Politik gestaltbar ( Ordnungsökonomik). W. ist paradigmatisch Ordnungsethik oder Institutionenethik. Sie ist insofern mit dem ökonomischen Handlungskonzept kompatibel, als das Handeln innerhalb der Rahmenordnung den Anreizen folgt; daher könnte man auch von Anreizethik sprechen ( Ethik).
- 4. Implikationen: Der Wettbewerb setzt einen – politischen – Konsens über die Spielregeln und eine Durchsetzungsinstanz (Justiz, Kartellamt) voraus. Der Wettbewerb ist eine soziale Veranstaltung zum Nutzen der Konsumenten (Konsumentensouveränität), indem er die Anbieter zwingt, sich an den Interessen der Nachfrager zu orientieren und auf Effizienz des Ressourceneinsatzes zu achten. Die Inkorporierung der Moral in allgemeinverbindliche Regeln hat ihren Grund in deren Wettbewerbsneutralität: Nur so kann moralisches Verhalten einzelner vor dem Opportunismus (potenzieller) Wettbewerber geschützt werden. Da moralisch unerwünschte, empörende Zustände nicht auf moralische Defekte der Akteure, sondern auf Defizite der Ordnung zurückgeführt werden, müssen angestrebte Korrekturen bei einer Reform dieser Ordnung ansetzen; demgegenüber sind moralische Appelle eher kontraproduktiv: Bedingungswandel aufgrund von Gesinnungswandel ist die Devise.
- 5. These: Die grundlegende These lautet: Der systematische – nicht der alleinige – Ort der Moral in der Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung.
- Erläuterung: Die Betonung der Rahmenordnung macht das moralische Engagement der einzelnen Akteure nicht überflüssig, im Gegenteil: Die Rahmenordnung ist prinzipiell unvollständig, und insofern sogar systematisch auf eine strukturierte Unvollständigkeit hin angelegt, als sie den Individuen Handlungsspielräume (Freiheit) eröffnen will, dies aber in kanalisierender Form zum Zwecke gelingender gesellschaftlicher Kooperation. Die These besagt lediglich, dass dieses moralisch motivierte Bemühen der einzelnen auf breiter Front in der Gesellschaft erfolglos bleiben muss und der Moral langfristig sogar schadet, wenn nicht die moralischen Akteure durch Inkorporierung der Moral in die Rahmenordnung vor der opportunistischen Ausbeutung durch ihre weniger moralischen Konkurrenten geschützt werden. Ohne Verankerung in der Rahmenordnung hat die individuelle Moral im Wettbewerb auf Dauer keine Chance.
- 6. Bedeutung des Paradigmenwechsels: a) Mit einer solchen Konzeption von W. wird den Veränderungen Rechnung getragen, die mit der funktionalen Differenzierung in gesellschaftliche Subsysteme evolutionär entstanden sind. Die alte „Hauswirtschaft“ wird zu einer modernen „Volkswirtschaft“ und heute zu einer Weltwirtschaft. Sie ist gekennzeichnet durch tiefe Arbeitsteilung, anonyme Austauschprozesse, lange Produktions(um)wege unter Beteiligung vieler Akteure, wachsende Interdependenzen und hohe Komplexität. Das Resultat einer modernen Wirtschaft hat daher kein einzelner, kein Unternehmen, kein Staat, keine Gewerkschaft etc., in der Hand; folglich ist dafür auch kein einzelner (allein) verantwortlich (zu machen). Die außerordentliche Steigerung des Wohlstandes und der  Freiheit in den westlichen Industrienationen basiert auf Bedingungen, die für die Realisierung moralischer Intentionen und Ideen eine neue Konstellation schaffen: Die traditionelle abendländische Kleingruppenethik muss paradigmatisch auf eine Ethik großer, anonymer gesellschaftlicher Gruppen umgestellt werden (innerhalb derer es natürlich weiterhin kleine Gruppen gibt).
- b) Als zentrales Problem erweist sich dabei die soziale Kontrolle von Handlungen. In kleinen, überschaubaren Gruppen ist die informelle Kontrolle im täglichen Umgang möglich und ausreichend, um moralischen Normen und Idealen Geltung zu verschaffen. In großen anonymen Gruppen ist der Beitrag des Verhaltens einzelner kaum bzw. nur unter hohen Kosten kontrollierbar. Daher muss das System der – grundsätzlich unverzichtbaren – Kontrolle umgestellt werden: Die Kontrolle erfolgt modern als (1) lückenlose Selbstkontrolle entlang dem Eigeninteresse in Verbindung mit (2) einem geeigneten sanktionsbewehrten Regelsystem (inklusive Wettbewerb), das das Handeln der Akteure in die allgemein erwünschten Bahnen lenkt.
- 7. Die moralische Qualität der Marktwirtschaft: Die moralische Qualität der Marktwirtschaft besteht darin, dass sie das beste bisher bekannte Instrument zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen darstellt, indem sie dem Wohl der Konsumenten dient. Diese Aussage bleibt grundsätzlich richtig, auch wenn die teils beträchtlichen Leistungs- und Kaufkraftunterschiede im Blick zu behalten sind und – in der  Sozialen Marktwirtschaft – Anlass zur Umverteilung geben, um die Marktwirtschaft zu verbessern.
- 8. Generelle Handlungsanweisungen: Aus diesen Überlegungen folgt die generelle Handlungsanweisung, dass sich die Akteure grundsätzlich systemkonform ( Systemkonformität) verhalten sollen. Dies lässt sich explizieren: Die Akteure sollen die Rahmenordnung beachten und innerhalb der Rahmenordnung langfristige Gewinnmaximierung anstreben. Aus der prinzipiellen Unvollständigkeit der Rahmenordnung folgt als weitere Handlungsanweisung, dass die Akteure entweder an der Verbesserung der Rahmenordnung, die sie dann selbst bindet, mitwirken sollen, oder im Fall „unvollständiger Verträge“, individuell moralisches, faires Verhalten gemäß dem „Geist“ solcher Verträge praktizieren; diese Probleme gehören in die  Unternehmensethik. Literatursuche zu "Wirtschaftsethik" auf www.gabler.de

Lexikon der Economics. 2013.

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